Einunddreißig Vermisste. Dies ist die Geschichte, die von dem heftigsten Sturm erzählt, dessen Ausläufer die Stadt Brighton Lake seit ihrer Gründung im Jahr 1879 gestreift haben. Die Chroniken der Stadt berichten von nur einem Sturm, der ein ähnliches Ausmaß erreicht hatte und das war im Jahr 1945 gewesen – diejenigen, die wissen, was geschah, wenden sich ab, wenn sie gefragt werden.
Wir müssen uns wohl alle glücklich schätzen, dass dieser Sturm, obwohl (und hauptsächlich, weil) er so heftig war, die Stadt nur am Rande gestreift hat, sagte William Langdon, Chief des Brighton Lake Police Departments. Wie gut, dass dort oben, wo er am schrecklichsten wütete, nur wenige Menschen unterwegs waren. Und welch ein Unglück, dass ein Leck zu dieser bedauerlichen Explosion im Hotel geführt hat.
Einunddreißig Menschen verschwanden in diesem Sturm, allesamt Gäste und auswärtige Mitarbeiter jenes Hotels, das dort oben in den Wäldern lag. Verirrte Wanderer, schlecht angezogen, keine Planung, Touristen eben, die zu weit hinausgegangen waren und vom Sturm überrascht wurden. Hinterfragt wurde nichts. Wieso auch, es waren Unbekannte, die verschwanden. In Brighton Lake hielt man nicht viel von ihnen. Nach einigen Monaten legte der Chief den Fall zu den Akten und nach ein paar Jahren wusste niemand mehr, dass dort oben einmal Menschen spurlos verschwunden waren.
Einunddreißig.
Das Vergessen kam schnell in Brighton Lake.
Seltsam war nur, dass sich sämtliche Gäste des Hotels gleichzeitig in jenem Sturm verirrt haben mussten, seltsam war nur, dass niemand auch nur die geringste Spur von ihnen gefunden hatte.
Als hätten sie sich alle zugleich in Luft aufgelöst.
Der Platz wurde gemieden. Dort, wo der Sturm sein Auge geöffnet hatte, stand jetzt nur noch eine ausgebrannte Ruine jenes Hotels, das einst prächtig gewesen war.
Sie fragen sich, was dort geschah?
Ich will erzählen, was geschah.
22. November, 8.23 Uhr
Sie erreichen die Stadt Brighton Lake, Whatcom County, Staat Washington.
Diese Schrift stand auf einem erdig braunen Schild, das frech zwischen all dem Schnee herausragte, als hätte es nur darauf gewartet, ihn zu ärgern. Jack Carver lenkte den Lieferwagen jene steile Straße hinauf, die er bei sich gerne die Rampe nannte – die Scheiß-Rampe, und fragte sich, warum um alles in der Welt er ausgerechnet hier war.
Er könnte gute tausend Kilometer entfernt sein, an einem weißen Strand mit Mädchen in knappen Bikinis und bunten Blumenschmuck, Cocktails und der warmen Sonne auf seiner Haut – stattdessen war er nun hier, auf den verschneiten Straßen der Kleinstadt Brighton Lake im hintersten Norden des Bundesstaates Washington. Hier, gleich vor der kanadischen Grenze, hinter dem Steuer eines Lieferwagens, dessen Frachtraum mit Lebensmitteln vollgestopft war. Carver drehte am Knopf des Radios, hörte die letzten Takte von James Blunts »You’re Beautiful« (Blödsinn, dachte er), bevor der Sprecher dazwischenquatschte. Ein riesiges Tiefdruckgebiet ziehe über den Norden der USA hinweg, über Washington, Washingtons Norden und damit über Brighton Lake, sagte er, und Jack stellte das Radio aus. Das weiß ich schon. Schließlich muss ich nur einen Blick aus dem Fenster werfen.
Draußen war der Himmel ein tiefes, dunkles Grau. Es schneite nicht, aber der Wind heulte über die wetterschiefen Dachfirste und erzählte davon, dass der Abend lang, schneereich und düster werden würde. Zu beiden Seiten der Straße waren Schneehaufen aufgeschaufelt, die der letzte Schneepflug beiseitegeschoben hatte. Die Straße glänzte silbrig, was am sich langsam bildenden Glatteis lag, und Jack wusste, dass der Pflug in den nächsten Stunden nicht mehr fahren würde. Vielleicht sogar nicht mehr vor dem nächsten Morgen.
Aber es störte ihn nicht. Er würde die Waren abliefern und dann wieder verschwinden, und das, noch bevor der Nachmittag anbrach. Alles eine Sache des perfekten Timings.
Zuvor würde er Kaffee brauchen, und zwar äußerst starken. Der übermüdete Blick, den ihm der Mann aus dem Spiegel zuwarf, zeugte nicht von Erholung und Gesundheit. Jack lenkte den Wagen auf den Parkplatz des letzten Restaurants (»Brighton Inn«, die mit den besten Pfannkuchen, die Sie in Ihrem Leben essen werden – Jack hatte welche gegessen und war eher froh, dass er überhaupt noch am Leben war) vor dem Ende der Stadt. Der Kaffee war nicht schlecht, immerhin. Jack beschloss, sich eine Kanne für den Weg mitgeben zu lassen. Er konnte das frisch geschnittene Holz aus dem nahen Sägewerk riechen, als er über den halb leeren Parkplatz schlenderte. Es roch hier eigentlich nie anders. Ganz Washington roch nach Holz, einem endlosen Haufen von Nadelbäumen und den Hinterwäldlern, die sich hier Abend für Abend volllaufen ließen.
Als er eintrat, war das Brighton Inn fast leer. Es hatte sich überhaupt kaum etwas verändert: der Tresen, der in einem Rechteck in der Mitte stand, darum herum die Tische. Der Boden, langweilig braun-weiß gefleckt, sowie der Plunder, der in einem kleinen Haufen auf einem Brett beim Eingang herumlag. Jack warf nur einen kurzen Blick darauf, es waren die üblichen Werbeprospekte der hiesigen Tourismusbranche. Von einer Wand hing der Kopf eines Hirsches herab, eine Jagdtrophäe, das Fell war zottig und über all die Jahre ausgeblichen. Das Radio dudelte einen Countrysong. Jack setzte sich auf einen Stuhl am Tresen und bestellte Kaffee, schwarz, ohne Milch, mit Zucker. An einem Tisch in der Nähe des Ausgangs saßen zwei Männer in karierten Hemden. Gewiss einige der örtlichen Holzfäller. Weiter hinten im Raum hielt sich jemand hinter einer breit aufgefalteten Zeitung verborgen, aber abgesehen davon hatte Jack das Brighton Inn für sich.
Der Kaffee kam. Die Kellnerin war jung, bestimmt noch im letzten Jahr auf der Highschool. Das Gebräu schmeckte schal, war aber stark und heiß, und das reichte ihm.
Für eine ganze Weile saß Jack da und betrachtete die Maserung der Holzplatte und die Malerei auf der Tasse, die vor ihm stand. Ein Bär, ein See und Berg mit spitzem Gipfel. Es vergingen zehn, fünfzehn Minuten. Der stets wiederkehrende Gedanke in seinem Kopf war die Frage danach, wie sein Leben in den letzten Jahren dermaßen hatte schief laufen können. Er hatte seit drei Jahren keine einzige Zeile mehr aufs Papier gebracht und seltsamerweise war, seitdem er nicht mehr schrieb, seine Welt aus den Fugen geraten.
Und immer kam es schlimmer.
Jemand tippte ihm auf die Schulter. Jack wandte sich um und sah einen der Holzfäller vor sich stehen, einen riesenhaften Kerl, der nur aus Schultern zu bestehen schien. Ein verwischtes Aufblitzen von Karo – Jack riss reflexartig sein Kinn nach oben – und der Schlag, der auf seinen Kopf gezielt hatte, traf ihn nur an der Schulter.
»Bastard!«
Sie warfen einen der Hocker um, dann noch einen. Jack gelang es, den Schlägen auszuweichen, aber der andere war wild, wie ein Besessener.
Ein Schlag, der ihn auf die Wange traf, raubte Jack kurzzeitig die Besinnung. Mit Schwärze und aufblitzenden Sternen vor den Augen wirbelte Jack herum und verpasste dem anderen zwei, drei kurze Hiebe in Höhe der Nieren. Holzfäller Nummer eins ging zu Boden und Jack drehte sich um, nur um sich dem Kumpanen des ersten Angreifers gegenüberzusehen.
Verdammt, was wollten die von ihm?
Der Zweite hatte einen deutlichen Bauchansatz und bewegte sich schwerfällig. Er war ein kleineres Problem.
»Verschwindet hier!« Jack packte Nummer eins, der noch immer irgendetwas das er offensichtlich verloren hatte auf dem Boden suchte, am Kragen und stieß ihn zur Tür hinaus. Als er sich umdrehte, stand die Kellnerin mit offenem Mund hinter dem Tresen, die Hand mit einem schmutzigen Glas war in der Luft erstarrt. Ihre Zahnspange glänzte im Neonlicht der Deckenbeleuchtung. Jack holte tief Luft, ein-, zweimal. In seinem Schädel brummte ein Bienenschwarm. Er tastete seine Wange und den Unterkiefer ab, aber es schien, von der langsam wachsenden Schwellung abgesehen, nichts gebrochen.
Dann applaudierte der Mann im hinteren Teil des Restaurants. Jack sah, dass er die Zeitung niedergelegt hatte. Es war sehr wahrscheinlich, dass er den Kampf beobachtet hatte.
Jack biss die Zähne zusammen und leerte die dritte Tasse, die noch immer unberührt auf dem Tresen stand. Dann packte er die Kanne, legte ausreichend Geld auf den Tisch und wandte sich zur Tür.
»Warten Sie einen Moment. Uns bleibt noch ein wenig Zeit.«
Jack blieb stehen, die Hände zu Fäusten geballt, halb rechnete er damit, wieder angegriffen zu werden. »Was wollen Sie?«
»Ich bin beeindruckt. Können wir uns unterhalten? Ich hätte da eine Gelegenheit, die Sie sich nicht entgehen lassen sollten.« Die Stimme war sonor und wohl moduliert. Jack konnte die aktuelle Ausgabe der Brighton News zusammengefaltet unter seinem Arm erkennen. Er fragte sich, wieso er den Kerl nicht hatte kommen hören.
Es war noch früh. So schnell musste er nicht gehen, der Fremde hatte recht. Wieso dann nicht mit einem seltsamen Menschen sprechen, der auf absurde Art und Weise dermaßen aus dem Raster derjenigen fiel, die man für gewöhnlich in einer kleinen Stadt wie dieser antraf? Jener Gedanke stahl sich in seinen Kopf, als er den Fremden betrachtete. Der Mann trug einen Mantel und einen Anzug mit einer feinen Weste, ganz in schwarz, nur seine schwarze Lederschuhe waren vom Streusalz der Straße angegriffen und gräulich-weiß. In einer Hand hielt er einen Gehstock mit perlmuttfarbenem Knauf.
»Na schön«, erwiderte Jack, »fünf Minuten.«
»Wie ich schon sagte, ich bin beeindruckt. Sie beweisen eine, na ja, beeindruckende physische Qualität.«
Jack rieb sich die Wange. »Kein Gerede.« Dafür war er nicht in Stimmung. Brighton Lake. Kaum war er angekommen, stieß es ihn auch schon wieder ab, genau wie früher. »Was wollen Sie?«
»Ich möchte Ihnen einen Job anbieten.«
»Wer sind Sie?«
»Hier.« Der Mann reichte ihm eine Karte aus einer Geldbörse, die verdächtig nach Schlangenleder aussah.
Billy B. Belzer
– Schuldeneintreiber –
»Ich habe weiter oben im Norden zu tun«, sagte Belzer. »Einen Mann mit ihren Fähigkeiten könnte ich gut gebrauchen.«
Jack betrachtete die Nummer, die unten auf der Karte aufgedruckt war. »Ein Schuldeneintreiber, was? Welche Schulden gibt es denn hier oben einzutreiben?«
Belzer lächelte und machte eine abwiegende Geste mit der Hand. »Einige, mein Freund, einige.«
Jack mochte es nicht, wenn man ihn als »seinen Freund« bezeichnete, vor allem nicht nach drei Sätzen. Er hielt Belzer die Karte hin. »Danke, bin nicht interessiert. Im Übrigen habe ich einen Job.«
Bis heute war dies zumindest noch zutreffend. Wer wusste schon, was noch geschehen würde. Er hatte auch damals nicht ahnen können, wie schnell sich eine glückliche Familie zerstören ließ. Jack ignorierte den Stich, den dieser Gedanke auslöste.
»Darf ich fragen –«
»Das Hotel, oben am See.« Der See namens Brighton Lake, um genauer zu sein, eben jener See, der der Stadt ihren Namen gab. »Ich weiß aber auch nicht, was Sie das angeht.«
»Ah! Das Three Larches!« Die drei Lärchen. Billy B. Belzer lächelte breit und zeigte außergewöhnlich viele Zähne.
Jack runzelte die Stirn. Belzer war definitiv nicht von hier, das bewies sein Akzent, und dennoch kannte er das Hotel oben am Brighton Lake. »Sie kennen das Larches?«
»Ich hatte früher einmal dort zu tun«, antwortete Belzer. »Aber das ist schon lange her. Meine Arbeit macht mich nicht gerade beliebt, ja, leider ein unvermeidbares Übel.«
Jack lächelte grimmig in sich hinein. Jim und Schulden, ja das würde passen. »Wie auch immer«, sagte er laut. »Ich kann Ihnen derzeit nicht helfen.«
»Behalten Sie trotzdem meine Karte.« Belzer lächelte noch immer. »Vielleicht überlegen Sie es sich anders.«
Jack blickte zu der jungen Kellnerin hinüber, die noch immer am Tresen stand und verträumt das Glas abtrocknete, als wäre die Zeit stehen geblieben. »Das ist unwahrscheinlich, aber danke für das Angebot.« Er nahm die Kaffeekanne und trat zur Tür.
Er glaubte, Mr. Billy B. Belzer nicht mehr wiederzusehen. Jack irrte sich.
Jack Carvers Weg führte ihn über die Rampe aus Brighton Lake hinaus, fünfzehn Kilometer eine schmale Piste an steilen Felsen und Wäldern vorbei (noch
’ne Scheiß-Rampe, konnte Jack sagen), ein sich schlängelnder und windender Weg durch den dichten Nadelwald hinauf und dann am Ende auf den Parkplatz, der vor dem Hintereingang des Hotels für ihn
und seinen Lieferwagen frei gehalten wurde.
Nun – eher für den Lieferwagen, hauptsächlich, denn Jim Jones interessierte es nicht, wer den Wagen letzten Endes fuhr, solange ankam, was ankommen musste.
Einen Dreck auf Jim. Solange ich ihn nicht sehen muss, ist die Welt in Ordnung. Und solange ich noch vor dem Nachmittag wieder von dort oben wegkommen kann.
Jack konnte nicht verstehen, warum jemand länger als nötig dort oben bleiben sollte. Gut, die Aussicht war traumhaft, die Suiten komfortabel und das Essen ausgezeichnet, aber sonst …
Wieder schweiften seine Gedanken in die Ferne, hin zu dem langen, beinahe endlosen Strand, dem weißen Sand. Die Wellen säuselten und die Sonne wärmte seine Haut. Das war ein Ort, an dem Jack sein wollte. Ein Ort, an dem er vergessen konnte. Vielleicht. Und nicht irgendein Hotel im kalten und schneereichen Norden Washingtons.
Irgendein Hotel?
Nein. Natürlich nicht. Nicht irgendein Hotel.
Jack Carver sah aus dem Fenster in die schneebedeckten Wälder hinüber. Unter den Schneeschichten ragten hier und da Äste hervor, ganzjährig in vollem Grün, rings herum mit Nadeln gespickt – eine Landschaft in einer Schneekugel, die auf zauberhafte Weise mit großen Flocken beschneit wurde, sobald jemand die Kugel ergreifen und umdrehen würde.
Nein, das THREE LARCHES war nicht irgendein Hotel. THE Three Larches bitte, Sir, und nennen Sie mich gefälligst immer Sir, wenn Sie mit mir reden.
Jack fluchte halblaut, als der Lieferwagen einige Handbreit von seiner Spur abkam und zur Mitte driftete. Inmitten der Fahrbahn waren Berge von schmutzig grauem Schnee aufgeschoben. Der Wagen schlitterte hinein, die Räder fauchten und grunzten unter dem Widerstand des festgefrorenen Schnees. Jack packte das Steuer fester. Nach einigen Sekunden hatte er das Fahrzeug wieder unter Kontrolle. Er warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob im Frachtraum irgendetwas verrutscht war.
Eine Sekunde war er abgelenkt.
Eine Sekunde zu lange.
Als Jack wieder nach vorne sah, machte die Straße eine Biegung. Er riss das Lenkrad herum. Die Räder kreischten, der Lieferwagen schlitterte. Die Schneewehen kamen näher, dahinter ragten die Bäume auf. Tödliche, bedrohliche Riesen. Er würde in sie hineinprallen – Jack kniff die Augen zusammen, bereit für das Unvermeidliche.
Der Wagen kam zum Stehen.
Dann: Stille.
Jack schlug die Augen auf. Sein Herz hämmerte. Er starrte zur Windschutzscheibe hinaus. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Was er draußen sah, würde er später als Nachwirkung abtun, als Nachwirkung des Schocks, unter dem er gestanden hatte. Schließlich war er haarscharf an einem Unfall, Verletzungen und vielleicht sogar seinem Tod vorbeigeschrammt. Er blinzelte.
Draußen, in zehn Metern Entfernung, stand etwas. Jack wusste nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war, aber er sah den schwarzen Mantel und den hochgeschlagenen Kragen; und er sah den silbrig glänzenden Gegenstand, den die Gestalt in der Hand hielt. Er sah ein helles Licht, das von dem Ding in der Hand ausging, über den Boden huschte, zur Motorhaube, die Windschutzscheibe und in sein Gesicht – dann wurde er bewusstlos.
Vielleicht war es Schicksal gewesen, würde er später denken. Vielleicht hat wegen diesem … Ding … alles angefangen.
Scheiße, vielleicht hätte ich es überfahren sollen.
Als Jack Carver später wieder aufwachte, waren das Licht und die Gestalt wieder verschwunden. Er sprang auf, eilte nach hinten: Die Lebensmittel – alles, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging – sie waren noch da. Jack wischte sich den Schnee vom Kopf. Er starrte hinauf zum Himmel. Es hatte zu schneien begonnen. Der Abend brach herein. Die schneebedeckten Baumkronen glühten im Licht der untergehenden Sonne. Jack schlug die Türen zu und glitt hinter das Steuer.
Wie lange war er weg gewesen? Zwei Stunden? Länger?
Wenn du das Hotel wieder verlassen willst, wirst du dich beeilen müssen.
Jack fuhr an. Der Wagen fügte sich, zuerst widerwillig, dann ohne Widerstand. Hinter ihm strich der Wind zwischen den Bäumen hindurch und heulte. Die Flocken fielen schneller, wurden größer. Jack ahnte, dass er nicht mehr zurückfahren würde.
An jenem Morgen des 22. November – während Jack Carver mit seinem Lieferwagen einige Kilometer entfernt auf seinen Beinahe-Unfall zusteuerte – stand
Jim Jones in der Empfangshalle, lächelte, trug seinen besten Anzug und hatte seine Mannschaft, wie er seine Mitarbeiter nannte, hinter sich versammelt. Warum er dies tat, war offensichtlich –
neue Gäste waren eingetroffen. Gerade vor wenigen Minuten hatten sich zwei Wagen auf den verschneiten Vorplatz geschlichen, deren weiße Aufschrift auf schwarzbrauner Grundlackierung sie als Taxis
auswiesen; die Fahrer hatten vorsichtig gewendet, ihre Gäste aussteigen lassen und sich augenblicklich auf den Rückweg gemacht. Beide Fahrer fühlten auf seltsame Weise dasselbe, als sie das Hotel
im Rückspiegel kleiner und kleiner werden sahen: Erleichterung und ein Gefühl, als wäre eine große Last von ihren Schultern genommen worden.
Die beiden jungen Männer verschwinden hier aus unserer Geschichte, aber das ist auch gut so. Sie haben sich eine Menge Ärger erspart.
Der Manager des Larches war ein untersetzter, massiger Mann mit wenig Hals und ebenso wenig Haaren, und wenn man ihn betrachtete, stachen zuerst die Wangen seines rundlichen Kopfes hervor; Wangen, so glühend rot als hätte er ständig Fieber – oder als hätte irgendjemand ihm heimlich eine Glühbirne in den Mund gesteckt. Oft trug er eine Seidenkrawatte, auch wenn er nicht in seinem besten Anzug steckte, und um seine Beine flatterten weite Stoffhosen.
Jim Jones war ein geschickter Rhetoriker und er wusste um dieses Talent. Nur allzu oft machte er davon Gebrauch.
Betrachtete man ihn weiter und hörte ihn erst einmal sprechen, so war man bald davon überzeugt, dass es keine andere Wahrheit auf der Welt geben konnte, als die dieses Mannes. Und noch etwas sollte man über Jim Jones wissen.
Er war ein gläubiger Mann.
Bei Gott, das war er.
Betrat ein Gast erstmalig die Lobby des Larches, dann war er für einen Augenblick überfordert, perplex und überrascht. Direkt dem Eingang gegenüber,
der von gläsernen Schiebetüren versperrt wurde, direkt gegenüber waren zwei mannshohe Spiegel an der Wand angebracht.
Trat also ein Gast zur Tür herein, sah er genau dies: ein ihm völlig identischer Zwilling, der von der anderen Seite herüberschaut, meist mit einem Koffer in der Hand, und einem O als Mund auf sein Gesicht gemalt. Hinter jenem Zwilling öffnete sich die Welt nach draußen, auf einen eisigen Vorplatz, wo große Schneeflocken im orangefarbenen Lampenschimmer tanzten.
Aber dann schloss sich die Tür und der Neuankömmling bemerkte seinen Fehler. Meist lachte er, machte einige Schritte weiter in die Lobby hinein und blieb abermals stehen. Über ihm öffnete sich die Empfangshalle in eine mächtige Kuppel aus Glas, durch die man direkt zum Himmel und schräg auf die vier Stockwerke hinaufblickte, die sich weiter hinten aus dem Gebäude erhoben.
Vor ihm stand ein Mann im blauen Anzug, der auf irgendeine verrückte Art und Weise eine brennende Glühbirne im Mund zu haben scheint, und hinter ihm mehrere Frauen und Männer in einer Reihe, als hätte sie jemand aufgestellt, der militärischen Drill liebte, aber wohl nie selbst beim Militär gewesen war.
So war es, wenn man als neuer Gast zur Tür hereinkam. Und so erging es auch den Männern und Frauen, die gerade in diesem Moment das Larches betraten.
Betrachten wir sie näher. Da kamen sie, fünf Männer und drei Frauen, alle in feste Winterjacken, Mäntel und Schals gehüllt. Ihre Köpfe und Schultern waren fein mit Schneeflocken bedeckt, als wären sie unter einen großen Puderzuckerstreuer geraten; ihre Wangen rosig von der Kälte. Draußen war das Thermometer auf zehn unter Null gefallen. Die Frauen unterhielten sich, die Männer waren schweigsam. Alle acht verharrten einen Augenblick, als sie sich im Spiegel entdeckten, dann lachten alle gemeinsam.
Sie wussten nicht, wie tief sie bereits jetzt einer Sache verfallen waren, einer Sache, von der sie nichts ahnten. Noch waren es nur Urlauber. Noch waren die Schrecken weit entfernt.
The Three Larches war kein großes Hotel, nein beileibe war es das nicht – aber es war ganz bestimmt auch kein kleines. Fragte man Jim Jones danach,
so begann er meist mit einem Vortrag über die Geschichte des Hauses und seine Vorbesitzer, vielleicht erwähnte er die eine oder andere berühmte Persönlichkeit, die im Lauf der Zeit schon einmal
eine oder mehrere Nächte verbracht hatte (dass die meisten der Prominenten vor seiner Zeit hier gewesen waren, vergaß er häufig zu erwähnen) – und gegen Ende würden seine Augen leuchten, wenn er
zu dem Mann kam, der das Larches entworfen und gebaut hatte.
Colin Peter Larches war der Name des Auswanderers zurzeit um 1878 gewesen, der aus dem untersten Süden Schottlands eine Reise angetreten hatte, die ihn bis in den obersten Norden von Amerika führte, wo er beschloss, seinen Traum ein für alle Mal umzusetzen. Er wollte einen Ort errichten, der die Zeit überdauerte. Seit der Zeit der ersten Siedler im Norden Washingtons überragte das Three Larches den Brighton Lake. So kam es, dass eben jenes Hotel entstand, das Jim Jones über ein Jahrhundert später leitete.
»Sir Colin«, sagte er gerade, »war ein großer Mann. Er war ein Visionär.« Seine Augen glühten. »Und es wäre ihm nicht gelungen, wenn er nicht ein bestimmtes Merkmal aufgewiesen hätte, ein Merkmal, das auch heute immer wichtiger werden wird. Das kann ich ihnen versprechen.«
Die acht neuen Gäste starrten ihn an. Jim bemerkte es kaum.
»Was meinen Sie?«
Jim lächelte breit. »Das ist doch klar. Colin war ein gläubiger Mann.«
Einer der Männer schnaubte. Jim ignorierte ihn. Er zog ein kleines Notizbuch hervor.
»Ich liege wohl richtig«, sagte er, »wenn ich annehme, dass dies die letzten Gäste für diese Woche sind?« Die Frage war nicht an die Neuankömmlinge gerichtet. Stattdessen trat ein älterer Mann aus der Reihe hinter ihnen hervor und antwortete: »Ja. Sir.« Er trug einen grauen Anzug. »Die letzten Gäste für den Abschluss dieser Saison.«
»Danke, Greg.« Jim lächelte die Frau an. »Wären sie so freundlich mir zur Rezeption zu folgen?«
»Natürlich.« Die Gäste begleiteten ihn hinüber, wo er ein großes, in Leder eingebundenes Buch aufschlug. Auf weißem Papier waren Namen in schwarzer Tinte geschrieben, eine feine, dünne Handschrift – es waren die Namen der Hotelgäste, eine Gästeliste, die Jahre zurückreichte.
»Darf ich sie bitten, sich einzutragen?«
Das Three Larches war eingeschlossen von Lärchen- (es hatte seinen Namen von drei mächtigen Lärchen, die am Ort der Grundsteinlegung gestanden hatte,
so die Geschichte, hatte ich sie schon erwähnt?), Blautannen und Kiefernwäldern. Mehrere Pfade, die teils von der Holzindustrie, teils von den wanderlustigen Urlaubern genutzt, führten durch die
Wälder hinüber zum Brighton Lake, dessen dunkle Oberfläche sich knapp einen Kilometer weit zu den Waldsäumen hin erstreckte. Es gab Braunbären in den Wäldern und mancher Wanderer hätte besser gut
daran getan, sich auf den vorgeschriebenen Wegen gehalten zu haben. Im Sommer dümpelten einige Ruderboote auf dem See, im Winter kam es alle paar Jahre vor, dass er zufror. Vom See wiederum
führten Wege hinab nach Brighton Lake, das am Fuß des mächtigen Mount St. James als Siedlung von frühen Einwanderern erbaut worden war, eben jenem Berg, von dessen Hochebenen nun der See und das
Three Larches auf die Stadt im Tal herabblickten.
Das Hotel im obersten Norden Washingtons (weiter nördlich ist nichts, nur Kanada, und mal ehrlich, würde Jim sagen, wer will da denn hin?) bestand aus vier Stockwerken, zwei Kellergeschossen und einem Dachboden. Während sich im ersten und zweiten Stock neunundzwanzig Einzel- und Doppelzimmer befanden, verteilt auf den Ost-, den Westflügel und den Zentralbereich, war der dritte Stock fünfundzwanzig Suiten vorbehalten. Im vierten Stock lagen fünf Luxussuiten, zehn Zimmer pro Suite mit einer Aussicht, ja danach würden Sie sich die Finger lecken, Suiten für fünftausend Pfund die Nacht.
Im Erdgeschoss gab es keine Zimmer, nur die Arbeitsräume für die Angestellten, eine große Empfangshalle und im Ostflügel den Speisesaal, an den die Küche mit der Speisekammer und Kühllagern angrenzte. Im Westflügel des Erdgeschosses lagen geschlossene Festsäle, die an Gesellschaften vermietet werden, und gleich daneben Lagerräume, in denen allerlei Krempel herumstand, alte, verstaubte Kisten, ausrangierte Maschinen, zwei ausgestopfte Hirsche. Im Keller stand das Herz des Hotels: eine gewaltige Heizungsanlage, nahezu vollautomatisch gesteuert. Nahezu, weil Hausmeister Bradley doch von Zeit zu Zeit hinabsteigen musste, um die Automatik zu justieren. Dort war auch ein Kinosaal mit sechzig Plätzen, einige leer stehende Räume, allesamt mit Öfen bestückt und die Wohnung des Hausmeisters. Daneben die Wäscherei und ein Lager, in dem die Betten und Matratzen abgestellt waren.
Tiefer lagen nur noch die ursprünglichen Fundamente des Larches. Was ist dort unten?
Ach nichts. Alter Krempel. Jims Antwort lautete immer gleich.
Haben Sie schon einmal danach gefragt?
Ja?
Ach nichts. Alter Krempel. Das war seine Antwort?
Haben Sie auch beobachtet, wie seine Hände gezittert haben?
Als Jack den Lieferwagen vor den Hintereingang des Larches fuhr, stand die Sonne schon hoch am Horizont. Es war später Mittag. In nur wenigen Stunden
würde das letzte Licht verschwinden, einer diffusen Finsternis Platz machen, die das Hotel in ihren Griff nahm.
Jack sog die Luft ein: Sie war klar und kalt und hart. Luft ohne Konturen, ohne die stinkenden Reste der Zivilisation, die sie verdorben und vergiftet hatte. Er hob den Blick zum Himmel und sah dort, was er erwartet – gerochen – hatte.
Ein Sturm kam, ein gewaltiger Sturm, und er wusste schlagartig, dass er das Hotel nicht mehr verlassen würde. Er wusste es.
Verdammte –
Dann erschien Jim in der Tür am Hintereingang. Jack sah ihn. »Ich hatte beinahe einen Unfall«, sagte er.
»Einen Unfall? Hast du nicht gebetet, Jack?« Jim kam näher. Jack roch die feine Veränderung in der Luft, die das Aftershave verursachte, das der Manager aufgelegt hatte. Es war irgendein teurer Duft, das wusste Jack, aber Jim hatte damit völlig übertrieben.
»Ich habe nicht gebetet, Jim. Und das weißt du. Und du solltest auch wissen, dass ein Gebet mich nicht vor den Unfall bewahrt hätte. Gebete bewahren niemanden.«
Der Manager schüttelte den Kopf. »Du denkst wieder an deine arme Frau? Lisey? Du wirst es nie lernen. Und jetzt sorg’ dafür, dass irgendjemand die Sachen auslädt.«
»Ich will so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden.«
»Hast du den Wetterbericht gehört?«
Jack nickte. Oh ja.
»Dann weißt du wohl, dass der Sturm kommt …«
»Ich weiß es«, unterbrach Jack. »Ich will es trotzdem versuchen.«
»Dann versuch es. Ich werde für dich beten, Junge.« Jim legte den Kopf schief. Er senkte seine Stimme, als einige der Mitarbeiter damit begannen, den Lieferwagen auszuräumen. »Vielleicht solltest du es auch einmal damit versuchen.« Der Ausdruck seiner Augen war kalt.
»Vielleicht«, sagte Jack und beobachtete, wie sein Atem einen weißen Niederschlag in der eisigen Luft hinterließ. Er beobachtete Jim, der seinerseits wiederum die Arbeiter betrachtete, und überlegte, ob er ihm erzählen sollte, was er gesehen hatte.
Aber Jim kam ihm zuvor.
»Willst du mir noch irgendetwas sagen?«
»Ich habe dort draußen etwas gesehen.«
Jim hob überrascht die Brauen. Seine Wangen hatten in der Kälte einen Teil ihrer Farbe verloren. »Was war es?«
»Es war nicht etwas. Ich glaube, dass ich jemanden gesehen habe. Der Wagen ist von der Straße abgekommen, ich konnte ihn gerade im letzten Moment zum Stillstand bringen. Da war eine Gestalt mitten auf der Straße. Sie hatte eine … eine Taschenlampe dabei.«
»Eine Taschenlampe?«
»Irgendetwas in der Art.«
»Was ist dann passiert?«
»Nun, ich wurde ohnmächtig.«
»Du armer Mann«, sagte Jim Jones. »Ich werde wirklich fest und lange für dich beten.«
»Jim, ich verstehe diese Sache nicht. Wie kann es sein, dass sich irgendwer bei diesem Wetter so weit von der nächsten Stadt entfernt in den Wäldern herumtreibt?«
»Vielleicht war es ein Jäger.«
»Ich habe kein Gewehr gesehen.«
»Oh, klar. Aber eine Taschenlampe, die hast du gesehen, sagst du?«
Jack zögerte. Er konnte Jim von der Stirn ablesen, dass er ihm nicht glaubte.
»Hör zu, Jack. Es gibt viele Möglichkeiten, und die, dass du dir diese Gestalt nur eingebildet hast, ist wohl nicht die absurdeste von allen. Und vielleicht war es sogar ein Gast aus meinem Hotel, wer weiß das schon?«
»Es ist nicht …«
»Ich habe zu diesem Vorfall nicht mehr zu sagen. Sei dankbar, dass dem Lieferwagen nichts passiert ist.« Jim ließ ein breites Grinsen sehen. Sein Gebiss schien Unmengen von Zähnen zu besitzen. »Ich bin mir sicher, dass du ihn nicht hättest bezahlen können.«
Als Jim davonging, dachte Jack mit einem Mal an Billy B. Belzer und die Karte, die in seiner Hosentasche steckte.
***
Jim schlenderte über den Platz, ging um das Hotel herum, sodass er auf der anderen Seite vor dem Haupteingang herauskam. Mit in den Taschen versenkten Händen, um sie vor der Kälte zu schützen (Jim bekam leicht spröde Haut, was wohl am Alter liegen musste), ließ er den Blick über sein Hotel schweifen. Es blühte wie in alten Zeiten. Die Fenster blinkten, eines zwinkerte ihm sogar zu. War das nicht gut?
Das war gut. Natürlich. Dennoch konnte er sich nicht des Gefühls erwehren, etwas übersehen, etwas vergessen zu haben. Aber so sehr er auch seinen Kopf anstrengte, Jim konnte sich nicht erinnern. Als er ins Innere seines Hotels zurückkehrte, begann es draußen heftiger zu schneien.
Jack schüttelte den Kopf, als er den Arbeitern über eine breite Treppe hinab in die Lagerhalle des Hotels folgte. Jim hatte sich nicht verändert. Er
war noch immer derselbe Idiot, der er vor Jahren schon gewesen war, daran gab es keine Zweifel. Sie passierten den letzten der für die Besucher zugänglichen Korridore, und standen vor jener
schwarzen Tür mit dem roten Schild, die nach hinten zu den Lagerräumen im Keller führten. Zutritt für Unbefugte strikt untersagt, hieß es da.
Der große Lastenaufzug, mit dessen Hilfe die Lieferungen aus den Lastwägen hinab ins Lager geschafft werden konnten, sank nach unten. Kellergeschoss Zwei zeigte die Anzeige über der Tür. Jack wusste, dass tiefer nur noch die Bereiche des Hotels lagen, die alt waren – sehr alt – und zum ursprünglichen Fundament des Larches gehörten.
Die Aufhängung des Aufzugs quietsche, als sie ausstiegen.
»Hey, Carver.« Jack blickte sich um. Hinter ihm stand ein älterer Kerl in einem grauen Overall und ausgewaschenen Jeans. Greg Bradley, Hausmeister und Gärtner des Larches – seit Jahren, vielen Jahren war er hier.
»Greg.« Jack schüttelte die Hand, die Bradley ihm entgegenstreckte.»Was macht die Arbeit?«
»Jim hat sich nicht verändert, aber ich habe mich drangewöhnt … mittlerweile.« Er ließ ein Raucherlachen hören.
»Ich nicht«, sagte Jack. Aber er hatte Recht, Jim schien sich nie zu verändern.
»Und du bist wieder hier, was? Deine Geschichten lassen sich wohl noch immer nicht verkaufen.«
Jack zögerte einen Augenblick. Nein, Bradley war noch nie besonders taktvoll gewesen. Nicht, dass es ihn gekümmert hätte. »Nein. Eigentlich wollte ich nur den Wagen ausladen und dann wieder verschwinden. Aber ich glaube, du weißt ganz genau, wie das Wetter draußen aussieht.«
»Allerdings, Schnee. Verdammt, viel Schnee würde ich sogar meinen.«
»Bis morgen bleibe ich, und ich hoffe, dass es sich bis dahin wieder verzogen hat. Länger will ich hier nicht festsitzen. Nicht, wenn Jim in meiner Nähe ist.«
»Und das kann ich verstehen.«
»Ist die alte Hausmeisterwohnung im zweiten Stock noch frei?« Jack wusste, dass Greg Bradley ausgezogen war, als vor Jahren der Dachstuhl teilweise eingestürzt war, und seitdem in den Räumen im Keller wohnte. »Jim lässt mich eher auf dem Boden schlafen, als dass er mir ein Gästezimmer gibt, auch wenn das halbe Hotel leer steht.«
Bradley lachte heiser. »Ja, worauf du einen lassen kannst! Aber ich kann dich beruhigen: Die Wohnung ist frei. Hat zwar ein wenig Staub angesetzt, aber der wird nicht stören, eine Nacht lang.«
Jack nickte. »Hoffen wir, dass es bei einer Nacht bleibt.«
»Meine Nase sagt, der Sturm ist bald vorbei«, sagte Bradley heiter. »Eine Nacht, nicht länger.«
Er sollte sich irren.
Miranda Reiley setzte neben ihren Namen eine Unterschrift (und versuchte dabei, das Zittern ihrer Finger so gut wie nur irgendwie möglich in den
Griff zu bekommen), nahm ihren Koffer und den Zimmerschlüssel für den zweiten Stock und ging als vorletzte der kleinen Gruppe zu den Aufzügen hinüber.
Die Türen öffneten sich mit einem leisen Glockenton, als die Aufzüge kamen und der Glockenton erinnerte sie auf schmerzhaft vertraute Weise an den Aufzug im Apartment drüben in ihrer Heimat – das Apartment, das nun nicht länger ihres war und Miranda musste sich zusammenreißen, um nicht sofort loszuheulen. Als sie ihr Spiegelbild in den Spiegeln direkt gegenüber des Eingangs erblickte, war sie erschrocken, aber es war nur konsequent, dachte sie dann: eine Frau kurz vor dem nervlichen Zusammenbruch sieht niemals aus wie ein Model aus einer Modezeitschrift, es sei denn im Film oder in sonstigen blödsinnigen Machwerken, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatten.
Also reiß dich zusammen, dachte sie. Und nun macht schon. Ich will in das Zimmer, egal welches, hier auf dem Schlüssel steht eine Zwei, eine Drei und eine Null, aber das ist mir gleich, ich will nur ins Bett, mir die Decke über den Kopf ziehen, nichts mehr hören und schlafen, schlafen … eine Woche ist es nun her, eine Woche ist vergangen und noch immer hast du ihn nicht vergessen! Verdammt, reiß dich zusammen!
»Ich kann Ihnen damit helfen.«
Miranda blickte auf, aus ihren Gedanken gerissen. »Was?«
»Ihr Koffer. Ich kann Ihnen damit helfen.«
»Oh.« Vor ihr stand der ältere Herr in seinem altenglischen Tweedanzug, der vor ihr in den Lift gestiegen war. »Danke.«
Ein Gentleman, einer alten, wohl längst vergessenen Schule. Miranda erkannte an seinem Akzent, dass er aus dem Süden Englands kam, vielleicht gar nicht weit von ihrer Heimat entfernt. Als er ihren Koffer in die Hand nahm, sah sie auch, dass er Probleme beim Gehen hatte und das linke Bein leicht nachzog. Aber er hatte den Lift kaum erreicht, eilte ein Hotelangestellter herein, der ihm den Koffer abnahm.
Miranda lehnte sich gegen die Rückwand. Der Lift vibrierte sanft, als er nach oben kletterte. Mit ihr und dem Herren in Tweed fuhr ein Mann nach oben, der sich die Fahrt über am Griff seiner Tasche festklammerte. Er hatte dunkle, seidig glänzende Haare, um die ihn manche Frau beneidet hätte. Seine Hautfarbe war von erhabenem Kupfer. Ein Indianer.
Miranda fing den Blick des Mannes auf: Sie konnte dort das ablesen, was sie selbst fühlte. Neugierde und jenes eigenartige Gefühl, das von einem Besitz ergriff, wenn man in einem unbekannten Land zu Gast in einem Hotel war. Der hohe Norden Amerikas war für eine Engländerin aus dem Süden durchaus ein unbekanntes Land.
Als der Aufzug ankam und die Türen zur Seite glitten, war der Blick frei auf einen Flur, dessen Holztäfelung an die Einrichtung eines alten englischen Herrenhauses erinnerte (auch wenn die meisten Schotten diesen Vergleich nicht hätten hören wollen, bedenkt man ihre Abneigung gegenüber den Engländern, aber es war offensichtlich, woher die Ideengeber um Colin Larches ihre Ideen mitgebracht hatten) – und der Geruch, der in der Luft lag, war alt und gediegen.
»Zimmer 19«, sagte der Herr im Tweed, nickte Miranda zu und humpelte hinaus, von einem der Jungen begleitet.
Miranda blickte auf den kleinen goldenen Schlüssel, den sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. 23.
»Noch ein Stockwerk, bitte.«
»Selbstverständlich, Ma‘am.« Der größere der beiden Hotelpagen steckte in einem weinroten Jackett und weiten, schwarzen Stoffhosen, die um seine Knöchel flattern würden, wenn er die Koffer hinter den neuen Gästen hertrug. Von dem Samtstoff seines Jacketts ging kaum merkliche der Geruch von Mottenkugeln aus.
Der Indianer nickte nur.
Nach einer Fahrt von zehn Sekunden öffnete sich der Lift zum zweiten Stock. Miranda folgte dem Pagen zu ihrem Zimmer, während Mr. Indian seinen Koffer selbst trug.
Auf der einen Seite reihten sich die Zimmer mit ansteigender Nummer aneinander, auf der anderen Seite die mit absteigender Nummer. Verzierte Holztüren führten in einen Flur, von dem man ein Badezimmer und das Schlafzimmer erreichen konnte. Die Räume waren alt, aber dennoch gediegen eingerichtet.
»Danke.« Noch in der Tür gab Miranda dem Jungen ein kleines Trinkgeld, zog dann den Koffer hinter sich in das Zimmer – Moment, jetzt hing er fest, was ist denn, zum Teufel, warum wollte er denn nicht – es gab das Geräusch von reißendem Plastik, Miranda ließ den Griff los und sah entgeistert zu, wie sich eine Rolle des Koffers mit dem Geräusch zerbrechenden Plastik über den Teppich kullernd verabschiedete.
Das konnte doch nicht wahr sein.
»Scheiße!«
Sie packte den Koffer, wuchtete ihn hoch (den Schmerz in ihrem Rücken missachtend) und warf ihn in den Flur hinein. Dann ging sie nach draußen, um das abgerissene Rad aufzuheben und stellte fest, dass es nicht mehr da war.
»Suchen Sie die hier?«
An der Wand neben der Tür lehnte ein Mann. Er betrachtete sie – in den Händen das kleine Rädchen.
»Ja. Geben Sie schon her.«
»Geben Sie sich nicht die Schuld.« Der Mann drückte ihr das Rad in die Hand. »Diese Stufe hat schon zahllose Gäste zum Verzweifeln gebracht.«
Miranda blickte in das Gesicht hinauf. Er war um gut einen Kopf größer als sie. Aber er war nicht unter den sieben Personen gewesen, die mit ihr zum Hotel heraufgekommen waren, das wusste sie sicher. »Sagen Sie das nur so oder waren Sie schon mal hier?«
Der Mann zögerte, bevor er antwortete, und als er es tat, schien es Miranda, als bereitete ihm die Antwort großes Unbehagen. »Ich habe hier mal gearbeitet.«
»Danke für den Hinweis jedenfalls.«
»Keine Ursache.« Er stieß sich von der Wand ab. »Schönen Urlaub, Ma‘am.«
»Ihnen auch …« Sie blickte ihm hinterher, bis der Mann um die Ecke verschwunden war. Er hat nicht gerade glücklich ausgesehen. Wer macht denn Urlaub in einem Hotel, in dem er einmal gearbeitet hat?
Aber das ging sie nichts an. Als sie die Tür hinter sich zuwarf, zerbrachen die letzten Schichten der Fassung, um die sie gerungen hatte, die sie um sich gelegt hatte wie eine Schutzschicht, und sie lehnte sich gegen die Tür und brach in Tränen aus.
Der Abend kam und mit ihm eine Menge Schnee. Der Parkplatz vor dem Hotel verwandelte sich – zuerst war er nur mit feinem Puderzucker bestäubt, dann
erstarrte er zu einer grellweißen, kalten Fläche, die wuchs und wuchs und wuchs. Die Welt war gedämpft, erstickt jeder Laut. Ging jemand nach draußen, dann war es ihm, als wäre er taub
geworden.
Hinter den Fenstern des Three Larches warfen Lampen einen orangeroten Schein. Aus dem Kamin stieg Rauch auf, silbrige Schnüre, die sich drehten und hinauf zum Himmel kletterten.
In den nahen Wäldern schrie ein Adler.
Niemand hörte ihn. Niemand hörte auch die Schreie jenes Tieres in den nahen Wäldern, das verendete, weil es auf etwas gestoßen war, das dort niemals hätte sein dürfen.
Im ersten Stock stand Jim in seinem Büro, drückte ein Handy ans Ohr und telefonierte. Er nannte es »ein Gespräch führen«, aber vielmehr war es so,
dass er redete, unablässig, ohne seinem Gegenüber auch nur die winzige Gelegenheit zur Antwort zu geben. Er war aufgebracht und wütend, und seine Wangen glühten.
»Was soll das heißen? Was soll das heißen, Sie können nicht fliegen? Ich habe Gäste hier, die morgen abreisen wollen! Die den Hubschrauberflug gebucht haben! Schnee, von wegen! Das bisschen wird Sie wohl nicht aufhalten! Was? Natürlich habe ich vorgesorgt! Was reden Sie da?« Er blies die Backen auf. »Ach lecken Sie mich!« Dann knallte er den Hörer zurück auf die Station.
»Was fällt dem Idioten ein, mich zu fragen, ob ich ausreichend vorgesorgt hätte? Pah!« Er drehte einige Runden um den Schreibtisch, packte dann ein Glas und goss einen Fingerbreit goldgelben Whiskey ein, tat Eiswürfel dazu und rührte, nur um sich zu beruhigen.
»Idiot!«, sagte er noch einmal in Richtung des Telefons und stürzte dann das Getränk mit einem Zug hinab. »Ich leite dieses Hotel seit Jahren, da weiß ich wohl, wie ich vorzusorgen habe, wenn ein Schneesturm aufzieht! Ich sollte diesen Typen seinem Vorgesetzten melden!«
Nach zwei weiteren Gläsern hatte Jim seine Nerven beruhigt und rief die Übersicht über das Lebensmittelinventar am Computer auf. Die einzelnen Positionen rollten über den Bildschirm.
»So! Alles da oder nicht?« Er tastete nach dem Glas. »Drei Kisten Kaviar sogar! Das sollte er sich einmal ansehen!«
Es klopfte. Jim blätterte auf die letzte Inventarseite. Diesel. Ah, der Diesel. Ein bisschen klein, diese Zahl hinter Diesel, oder Jim? Ein bisschen wenig Diesel für die Notstromgeneratoren, nicht, Jim?
»Wer braucht Notstrom? Wir haben eine starke, stabile Leitung aus der Stadt hier rauf. Pah! Das sollte er sich erst einmal ansehen!«
Dieses Mal klopfte es heftiger.
»Kommen Sie rein!«
Die Tür ging auf und herein trat (was zum Teufel sucht der denn hier? Sollte der denn nicht schon längst wieder gefahren sein?) Jack Carver.
»Sie sind ja immer noch hier?« Jim hielt das Whiskeyglas fest zwischen den Fingern.
»Zuviel Schnee. Ich werde die Fahrt nicht riskieren. Ich bin in der alten Hausmeisterwohnung im zweiten Stock, die unbenutzt ist.«
»Ja, Ja.« Jims Blick wanderte zurück zu der Zahl hinter DIESEL. Mit einem Mal hatte er es eilig. Das Computerprogramm, das die Bestände erfasste, hatte gewiss einen Fehler gemacht, ja natürlich hatte es einen Fehler gemacht. Er würde in den Keller zu den Aggregaten gehen und die Dieselkanister mit eigenen Augen überprüfen. Gar kein Problem.
»Ja. Die alte Wohnung. Keine große Sache, Carver. Verschwinden Sie einfach morgen und sagen Sie Ihrem Boss, er soll beim nächsten Mal jemand anders mit dem Lieferwagen schicken.«
Carver zeigte keine Reaktion. Er drehte sich um und schloss die Tür hinter sich. Jim goss noch einmal Whiskey nach, bis er seine Kehle vor Hitze nicht mehr spüren konnte. Dann nahm er den Kellerschlüssel vom Schlüsselbrett und machte sich auf den Weg.